Versäumnis nach Entbindung

Fehlende Notrufklingel gilt als grober Behandlungsfehler

Eine Ärztin schaut auf ein Tablet
08 Feb. 2022

Ein Behandlungsfehler im Sinne des Arzthaftungsrechts setzt nicht zwangsläufig voraus, dass ein Arzt dem Wortsinn entsprechend „gehandelt“ oder jemanden „behandelt“ hat. Auch Nachlässigkeiten seitens einer Klinik - wie etwa eine fehlende Notrufklingel - können ein Behandlungsfehler sein. Dies entschied das Oberlandesgericht Celle (OLG) in einem Fall, in dem ein Versäumnis dramatische Folgen hatte.

 

Nach einer im Wesentlichen komplikationsfreien Entbindung ließ eine Hebamme eine Mutter mit ihrem Neugeborenen allein, um ihnen den Aufbau der Mutter-Kind-Bindung zu ermöglichen (sogenanntes Bonding). An sich ist das ein völlig normaler Vorgang, jedoch erschien der Mutter nach kurzer Zeit das Baby als „zu ruhig“. Sie habe klingeln wollen, damit jemand nachschaue. An ihrem Bett gab es aber keine Klingel. Infolge der Geburt konnte sie nicht aufstehen. Der Hebamme fiel der Zustand des Babys deshalb erst rund 15 Minuten später auf. Das Kind litt zu diesem Zeitpunkt unter einer Atemdepression („Fast-Kindstod“). Trotz unverzüglicher Behandlung und Reanimation führte dies zu einer schweren Hirnschädigung.

 

In dem Prozess verlangte das Kind - vertreten durch seine Eltern - von dem Krankenhaus und der Hebamme aufgrund der bleibenden Gesundheitsschäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 € sowie den Ersatz materieller Schäden. Das Landgericht Hannover hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben.

 

Auch das OLG als Berufungsinstanz folgte dem. Nach Ansicht des Gerichts muss eine Mutter in dieser Phase nach der Geburt die Möglichkeit haben, eine Hebamme beispielsweise mit einer Klingel zu alarmieren, ohne aus dem Bett aufzustehen. Dass eine solche Alarmierungsmöglichkeit hier fehlte, sei ein grober Behandlungsfehler gewesen, der einem Arzt bzw. einer Hebamme schlechterdings nicht unterlaufen dürfe.

 

Hinweis: Wie das OLG feststellt, haften das Krankenhaus und die Hebamme, auch wenn nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden kann, dass eine frühere Alarmierung in diesem Fall die Hirnschädigung tatsächlich verhindert hätte oder diese geringer ausgefallen wäre.

 

OLG Celle, Presseinformation v. 24.11.2021; www.oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de

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