Der Orthopäde bewegt sich bei der Diagnostik von Knieverletzungen in einem Spannungsfeld zwischen Unter- und Überdiagnostik: Führt er zu wenige Untersuchungen durch, droht ihm der Vorwurf des Befunderhebungsfehlers. Ordnet er jedoch zu viele Untersuchungen an, drohen Budgetüberschreitungen und der Vorwurf, unnötige Kosten sowie Belastungen für die Patienten zu verursachen. Ob im Urteilsfall ein Befunderhebungsfehler des behandelnden Orthopäden vorlag, musste das Oberlandesgericht Hamm (OLG) entscheiden.
Im Urteilsfall stellte sich eine adipöse Frau mit Kniebeschwerden und Einklemmungsproblematik bei dem Beklagten vor. Dieser führte eine klinische Untersuchung, eine Röntgenuntersuchung und Ultraschalluntersuchungen des Knies durch. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) ließ er nicht erstellen. Nach mehreren Operationen besserte sich zunächst der Zustand des Knies, dann aber verschlechterte er sich wieder. Zuletzt verklagte die Frau den Arzt und warf ihm dabei unter anderem vor, er habe pflichtwidrig keine MRT vor der Operation durchgeführt. Ebenso wie die Vorinstanz wies das OLG die Klage der Frau als unbegründet zurück.
Ein Befunderhebungsfehler liege hier nicht vor. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen sei es medizinisch nicht geboten gewesen, vor Durchführung der Arthroskopie am 17.11.2015 eine MRT-Untersuchung zu veranlassen. Die im Vorfeld des Eingriffs unstreitig erfolgten Röntgenuntersuchungen, die sonographische Untersuchung und die klinischen Untersuchungen seien zur Beurteilung der Frage, ob eine Operation indiziert war, ausreichend gewesen.
Der Sachverständige hat bestätigt und nochmals bekundet, dass bei einer klinischen Untersuchung durch einen erfahrenen Arzt sogar eine höhere Treffersicherheit als durch eine MRT-Untersuchung erreicht werden könne. Eine MRT-Untersuchung sei auch nicht geboten gewesen, um zu beurteilen, welche Anteile des verletzten Meniskus entfernt werden müssten. Das OLG verneinte deshalb im Ergebnis einen Befunderhebungsfehler des Orthopäden.
Hinweis: Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Frage, ob eine MRT-Untersuchung bei Knieverletzungen geboten ist, nicht schematisch beantwortet werden kann. Dem Arzt wird hier eine komplexe Einzelfallentscheidung abverlangt, die im Berufsalltag schon aus Zeitgründen oft schwierig sein wird.
OLG Hamm, Urt. v. 08.06.2021 – 26 U 74/20